Orcia-Tal: Mit Sangiovese in der Hängematte
// von Melanie Schulz | 10/10/2015
PODERE IL CASALE Eine ökologisch wirtschaftende Farm im schönen Orcia-Tal lädt zum entspannen ein. Hier, im Süden der Toskana, gibt es einen kleinen Campingplatz, leckere Biokost, einen idyllischen Schilfsee und eine traumhafte Weitsicht über sanfte Hügel.
Die Blicke schweifen über das ausgelegte Kartenblatt und bleiben schließlich in der Vergangenheit haften: Mindestens sechs Wochen Urlaub waren es damals zu Unizeiten. Im Spätsommer. An wilden Atlantikstränden im Süden Portugals. Tosende Brandung, endlose Weite, Freiheit und Übermut pur. Was davon geblieben ist? Dieses Jahr sind es gerade einmal zehn freie Tage zur Hochsaison im August, Tiefenentspannung gilt es allenfalls im Galopp zu erzielen.
Das Setting ist eng gesteckt: das Radio meldet regnerisches Wetter im Norden, im Süden jagen übervölkerte Strände jeden annähernd überzeugten Individualisten in die Flucht. Auch sollte das gesuchte Shangri-La wegen der übersichtlichen Zeitspanne nicht allzu viele Lichtjahre weit entfernt sein.
Es werden alle Himmelsrichtungen gedanklich ausprobiert, die Finger reisen auf der Landkarte und treffen sich schließlich zirka 300 km südlich der Alpen über der Toskana. Nicht schlecht, Szenen aus der ARD-Serie „Ein Haus in der Toskana“ drängen sich auf: das von Zypressen beschattete Steinhäuschen, weinumrankte Pergolen, rote Mohnblumen in hügeligen Olivenhainen, im nahen Bergdorf flirtet die blonde Muriel Baumeister mit dem italienischen Automechaniker, Sommer, Sonne, Aussteigertraum.
Auf die Autobahn in Richtung Süden
Am nächsten Tag geht’s mit voll gepacktem Auto, guter Laune, Blümchen-Minirock und abgewetzten Jeans auf die Autobahn, die Traumzeit Toskana kann beginnen. Auf ausgerissenem Karopapier sind einige Adressen von Bio-Bauernhöfen mit Zeltplatz notiert, für den Kauf eines Reiseführers war die Zeit zu knapp. Üppiges Proviant und die Energie von Neneh Cherry trösten über das Unwetter hinweg, welches die Schweizer Bergwelt schon bald in dunstigen Dampf taucht.
Am Morgen darauf ist am Comer See ernsthaft die Fahrbahnhaftung gefährdet, mehrere Zentimeter hohes Regenwasser läuft über die Asphaltstraßen ab. Kurz vor Genua reißt der Himmel erstmals wieder auf, weiter geht es durch die wilde Landschaft der Garfagnana. Auf Wald folgen satte Weinfelder im Chianti. Touristenmagnete wie Pisa, Florenz oder die mittelalterlichen Geschlechtertürme von San Gimigano fliegen vorbei.
Südlich von Siena werden die sanften Hügel ruhiger, die Kontraste stärker: Dunkelgrüne Zypressen-Allen führen durch von der Sonne getrocknetes Land zu erdfarbenen Landhäusern, der Landschaftskult Toskana nähert sich im Biosphärenreservat Val d’Orcia seiner Vollendung.
Ein Biohof mit Charme – und leider ausgebucht
„Podere il Casale“ heißt der angepeilte Biohof zwischen Pienza und Montepulciano ohne Adressnennung im Internet (mittlerweile sind sogar die GPS-Koordinaten veröffentlicht). Ein Anruf nach Deutschland macht das Aufspüren nicht unbedingt leichter. Eine Ausschilderung ist scheinbar nicht erlaubt, kurz hinter dem nicht existenten Kilometerstein 6 aus Richtung Pienza kommend muss man rechts abbiegen. Nach konzentriertem Tachostudium, Passieren eines Hofes und weiterer Zypressengewächse auf staubiger Schotterpiste ist das Ziel erreicht.
Das alte Gehöft übertrifft alle Erwartungen und erweist sich als schattiges Paradies in kräftigen Farben, schimmerndes Sonnenlicht fällt auf eine rustikale Holztafel und lässt an italienische Köstlichkeiten denken, Bienen summen im trockenen Wind, der Duft von mediterranen Kräutern mischt sich in die phantastische Aussicht über das weiche Tal und auf den erloschenen Vulkan Monte Amiata, alles ist von schier surrealer Schönheit.
Verführerisch und unerreichbar zugleich, denn ohne Reservierung geht um diese Jahreszeit leider gar nichts. Alle sechs Stellplätze sind belegt, erklärt die Angestellte mit schweizerischer Gelassenheit, vielleicht sieht es ja am nächsten Tag entspannter aus. Nun heißt es, sich zu sputen, denn die Toskana ist kein Camperland. Im Bergdorf Pienza ist kein weiterer Campingplatz im Umland bekannt, nach 30 km Fahrt durch kegelförmiges Hügelland taucht bei Sarteano das sündhaft teure Campingdorf Parco delle Piscine auf – 50 Euro für zwei Personen, Auto und Zelt ist man hier schnell los.
Endlich doch noch ein Zeltplatz für Zwei im schönen Orcia-Tal
Am folgenden Tag ist das kleine Zelt in flirrender Luft auf einer Blumenwiese unter Zypressen schnell aufgebaut. Junge Schweinchen und Zicklein rennen durch die Gepäckstücke, Lebensmittel müssen auf dem Biobauernhof im Orcia-Tal stets gut verteidigt werden. Buntschillernde Pfauen stapfen durchs sommerliche Gras auf der Suche nach Ihrer Leibspeise. Dabei handelt es sich glücklicherweise um die giftige Viper, von der es in der Toskana nur so wimmeln soll.
Dann ist es endlich soweit: Anstatt in schäumende Gischt stürzen sich die Reisenden mit Tewa-Sandalen in die sanften Wellen des Tals. Durch ausgedörrtes und frischgepflügtes Land sind Pienza und Montechiello auf verschlungenen Pfaden vom Hof fußläufig erreichbar. Die meditative Landschaft leitet unweigerlich in den Entspannungsmodus über, frei wie der Wind wandern die beiden durch die ruhige Mondlandschaft, vertrödeln später den Tag in einem Café in der Sonne.
Zurück auf Podere il Casale lockt ein Schilfsee hinter dem Hof mit einsamem Steg und frischem Nass. Die Schafe werden durch die hitzeflammende Distellandschaft nach Hause getrieben, auf dem Schafsstall weht eine Bob-Marley-Flagge. In den bunten Wohnwägen hinter dem Steinhaus wohnen freiwillige Helfer aus aller Welt, die auf der Farm verschiedene (Ernte-)Arbeiten übernehmen (es handelt sich um eine WWoofing-Farm (worldwide opportunities on organic farms), was soviel heißt, dass es freie Kost und Logis für aktive Hilfe gibt. Die lässigen Weltenbummler stehen in scharfem Kontrast zu den Luxus-Wohnmobilisten in erster Reihe aus Ravensburg, die sich bereits nach Möglichkeiten erkundigt haben, dem Hund Bruna das morgendliche Bellen zu untersagen.
Von Bruschetta und Crowdfunding
Die Nachbarin aus der regenbogenfarbenen Hängematte ruft: „Habt Ihr noch etwas Knoblauch? Ich will Bruschetta machen.“ Sie ist total begeistert von dem Hof und erzählt, dass dieser in den frühen 90ern von einem Schweizer Ehepaar mit Hilfe eines großen Freundeskreises übernommen wurde und auch heute noch von Sandra und Ulisse betrieben wird. Eine frühe Form des Crowdfunding?
Frisches Gemüse und Obst, Oliven, Wein und Getreide werden auf il Casale angebaut, es gibt Wurst und Fleisch aus einer kleinen Schweinezucht, selbstgemachten Ricotta und Pecorino aus Ziegen- bzw. Schafsmilch, getrocknete Kräuter, Pasta und Honig. Tagsüber werden Gäste über den Hof geführt, zweimal täglich öffnet das Restaurant mit Bioküche. Wer will, kann sich auch schon zum Frühstück bewirten lassen, selbstgebackenes Brot, Ricotta, Pflaumen- und Feigenmus werden zu Milchkaffee auf der Terrasse mit grandiosem Ausblick gereicht.
In den warmen Nächten zirpen die Grillen um die Wette und die Zypressen ragen wie Säulen in den blauschwarz-glitzernden Sternenhimmel. Vom Stall weht Virgin Radio blechern und leise Melodien von Bob Dylan und Patty Smith bis ans Zelt heran, bei einer Flasche Sangiovese dauern die Gespräche bis tief in die Nacht hinein.
Hier lässt’s sich aushalten: abschalten, faulenzen, lesen und sorglos in den Tag hinein leben. Und plötzlich ist es wieder da, das Gefühl, die Welt umarmen zu können, Ideen in unmittelbarer Greifbarkeit, Inspiration und Kreativität im Überfluss…
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