
Les Apilles
// von Melanie Schulz | 17.02.2022
Wenn der Mistral weht, dann ist der Himmel besonders klar und blau. Die Farben von Arles und den Alpillen, vor allem aber das Licht des Südens in all seinen Variationen haben seinerzeit Vincent Van Gogh inspiriert. Heute spielen Aluminiumziegel mit dem Licht der provenzalischen Sonne.
Draußen tobt der Mistral. Wie ein Laubbläser treibt er Reste von buntem Papier und Weihnachtsschmuck durch die menschenleeren Gassen, in denen große, blaue Fensterläden klappernd an alte Hausmauern schlagen. In der Nähe der römischen Arena in Arles wärmen wir uns in einem Salon de Thé auf, in dem nebenbei Trödel verkauft wird. An dem kleinen runden Tisch am Fenster haben wir zwischen all den drapierten Glasvasen und Flakons, dem polierten Silberbesteck, allerlei Mamortiegeln und den winzigen Porzellantellerchen unsere Mühe, uns aus unseren Kleiderschichten zu schälen. Denn die sind ob der eisigen Kälte in diesen Tagen unbedingt notwendig. Wir sind fasziniert von dem charmant-dekoratieven Ambiente und den zahlreichen antiken Kostbarkeiten, die unserer Aufmerksamkeit sicher sein können. Die sympathische Bedienung macht uns zwei Tassen Kaffee, zu denen wir zwei leckere Toasts genießen.




Nach der wunderbaren Rast entschließen wir uns dazu, etwas Zeit im Auto zu verbringen. Außerhalb der Stadtmauer legen wir einen kurzen Stopp ein, um endlich den schon bei vorangehenden Besuchen am Horizont entdeckten silbrig schillernden Turm aus Aluminiumquadern aus der Nähe zu betrachten. Mehr dazu später.
Varianten von Blau
Anschließend fahren wir weiter in Richtung Alpillen. Die zirka 30 Kilometer lange Bergkette mit ihren bizarren, zerklüfteten Kalksteinfelsen steigt nordöstlich von Arles unvermittelt aus der Ebene La Crau auf. Wenn der Mistral weht, heben sich die Bergzacken besonders hell gegen den klaren Himmel ab, der dann zwischen tiefem Blau und lichtblauem Coelin changiert. Die kargen Berge sind nur dann und wann mit Sträuchern der Macchie bedeckt. So blühen hier im Sommer etwa Mastix, Myrte und Wachholder. Im Süden schließen sich wertvolle Olivenplantagen an, deren Bäume silbrig in der Sonne flimmern.
Les-Baux de Provence
Genau genommen steuern wir das Dörfchen Les-Baux an. Es hat seinen Namen von dem Wort “Baou”, was so viel heißt wie „schroffer Felsen“, und ist wiederum Namensgeber für den nahebei gefundenen braun-violetten Bauxit, aus dem reines metallisches Aluminium gewonnen wird. Es thront inklusive seiner verfallen Burgfestung auf einem Felsvorsprung der Kalksteinkette. Einst soll hier ein Tribunal aus Edeldamen den besten Troubadour mit einem Kranz aus Pfauenfedern geschmückt haben.
Les-Baux ist mit seinen alten, zum Teil in den Fels gehauenen Steinhäusern und den gepflasterten Gäßchen ein hübscher Ort. Doch beschaulich geht es hier schon lange nicht mehr zu. Ebenerdig wird in nahezu allen Räumen Souvenir oder Kunsthandwerk feil geboten, vom obligatorischen Lavendelduftsäckchen, über die berühmte provenzalische Pflanzenseife Savon de Marseille bis hin zu allen Varianten regionaler Spezialitäten.
Mehr als eine Million Touristen sollen pro Jahr die Burgruine von Les-Baux besuchen, momentan merken wir davon wenig. Vielleicht gibt es in dem ein oder anderen Laden ein kleines Gedränge, die Straßen sind aber auch hier wie leergefegt. Der kalte Mistral nimmt mit, was er aufnehmen kann, auf dem Kirchplatz liegt ein umgestürzter und verwehter Weihnachtsbaum.
Starke Böen
Wir kaufen zwei Tickets für die Burg und laufen damit geradewegs in ein lautstarkes Inferno hinein. Denn hier oben entfaltet der Mistral seine volle Kraft. Zwischen dem französischen Zentralmassiv und den Alpen wird der kalte Fallwind im nahen Rhonetal kanalisiert und erreicht so hier oben enorme Geschwindigkeiten. Böen machen ihn zudem unberechenbar. Wir versuchen es erst mit Entgegenstemmen, entscheiden uns dann aber schnell fürs Festklammern. Außer uns kämpft noch ein weiteres Pärchen gegen die Windstöße an. Auf den Besuch der eigentlichen Burg verzichten wir. Eine Familie kommt uns von dort entgegen. Das Kind, ein blonder Junge, wird vom Wind erfasst und von diesem vor sich her getrieben, bis sich der Vater auf es stürzt. Wir entscheiden uns schnell für einen Rückzug, auch wenn die Aussicht auf die Alpillen und die fruchtbare Ebene wunderschön ist.



















Eine Hommage an die Alpillen
Zurück zum metallisch-schillernden Turm in Arles, der sichtbare Bezüge zu dem schroffen Gebirgszug aufweist. Der Turmbau stammt von Stararchitekt Frank O. Gehry, der diesen gemeinsam mit seinem Büro Gehry Partners in Los Angeles entworfen hat. Sage und schreibe elftausend silbern schimmernde Aluminiumquader (bei Nacht sollen sie golden glänzen) bilden die Fassade des Turms, die das provenzalische Licht in alle Richtungen spiegelt. Spiralförmig winden sich die verdreht und verwinkelt angeordneten Aluminiumziegel aus einem gläsernen Sockel heraus, der auf die römische Arena in Arles anspielen soll. Auch die Quaderform nimmt auf römisch-antike Bauwerke Bezug. Frank O. Gehry selbst soll sein glitzerndes Bauwerk als freie Reinterpretation der hochaufragenden Felsformationen der Alpillen-Bergkette beschrieben haben. So befindet sich auch auf der stadtabgewandten Seite ein Versorgungsschacht aus dem Kalkstein jenes Gebirges. Aber auch an das Werk von Vincent van Gogh und besonders an seine „Sternennacht“ soll der dekonstruktivistische Bau erinnern. Der kanadisch-US-amerikanische Architekt, der schon oft als „Picasso der Architektur“ bezeichnet wurde, gilt als einer der wichtigsten Vertreter dieser architektonischen Stilrichtung.
Eines der größten privaten Kunstprojekte Europas
Auf acht Stockwerke und eine Höhe von 56 Metern verteilen sich Ausstellungsräume, Werkstätten, Forschungslabore und Ateliers. Fotografiert habe ich den Turm im Winter 2019/2020, kurz vor seiner Fertigstellung. Der Kunstturm steht im Parc des Ateliers, einer ehemaligen Brachfläche in Arles, die heute Sitz der Kulturstiftung LUMA Arles ist. Finanziert hat den Hotspot der Kunst die Schweizer Milliardärin und Miterbin des Hoffmann-La Roche-Pharmakonzerns Maja Hoffmann. Es ist eines der größten privaten Kunstprojekte in Europa und weltweit. Die Idee dahinter: Maja Hoffmann wollte einen Ort der Kreation und des Austausches von Künstlerinnen und Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern schaffen. In der ebenerdigen Ausstellung werden neben Spezialanfertigungen vor allem Objekte aus ihrer privaten Sammlung gezeigt. Der Turm wurde am 2. Juli 2021 eröffnet.


Doch ganz unumstritten ist das spektakuläre Bauwerk nicht, wie dies der Kulturbeitrag von Titel Thesen Temperamente zeigt.
Die Alpillen mit den Augen von Van Gogh sehen
Ein Denkmal für die Ewigkeit aber hat Vincent van Gogh den Alpillen gesetzt. Er ging im Jahr 1888 auf der Suche nach dem Licht des Südens zunächst nach Arles, später ließ er sich im Kloster Saint-Paul-de-Mausole in Saint-Remy de Provence, am Fuße der Alpillen gelegen, wegen seelischer Leiden behandeln. Von hier aus unternahm er ungezählte Wanderungen mit Staffelei in die magische Welt der Alpillen. Allein in diesem Jahr schuf er etwa 150 Bilder, von denen die meisten heute als Meisterwerke gelten. Eines seiner berühmtesten Bilder aus dieser Zeit dürfte wohl die „Sternennacht“ sein, die auch Frank O. Gehry so zu inspirieren schien. Daneben malte er mit lebhaftem Pinselstrich die kargen Berge, Licht und Schatten der üppigen Pflanzenwelt, uralte Ölbäume, aber auch die ländliche Bevölkerung dieses Landstriches bannte er auf die Leinwand. An seinen Bruder Theo schrieb er aus dem Sanatorium: „I could certainly do an entire series of these Alpilles, for having seen them for a long time now I’ve got used to it a little.“
Einen ganz besonderen Film über den zarten wie kraftvollen Maler Vincent van Gogh hat der US-amerikanische Maler und Filmregisseur Julian Schnabel mit „Van Gogh – An der Schwelle zur Ewigkeit“ gedreht. Willem Dafoe verkörpert darin den verletzlichen und zugleich besessenen Künstler mit unglaublicher Intensität. Viele Szenen des Filmes wirken wie aus den Augen Van Goghs gefilmt und zeigen, wie rauschhaft der Maler seine Umgebung wahrgenommen hat. Der Kameramann Benoit Delhomme schafft die verschwommenen und unglaublich schönen Bilder dazu. Schöner geht’s nicht!
… und noch einige Impressionen aus Van Goghs Arles:


