
Idyllisches Tal, literarische Muse
// von Melanie Schulz l 20.05.2023
Sommer. In einem Tal in der Mitte Deutschlands. Auf den Spuren zweier Schriftsteller.
Verträumte Blumenwiesen, vor uns ein dunkles Waldstück, daneben der kleine Fluss in den Weiden: Mit diesen sommerlichen Bildern empfängt uns das idyllische Lumdatal. Eigentlich wollen wir das Tal auf dem Radwanderweg entlang der Lumda erkunden. Doch das ist unmöglich. Der schmale gepflasterte Weg gehört ganz dem hektischen Radverkehr. Also entscheiden wir uns für einen der Höhenwege, die Allendorf und die Rabenau verbinden.






Allendorf (Lumda), Nordeck und die Rabenau
Hier, in den Dörfern stehen schmale Fachwerkhäuser neben solchen, die mit Schindeln verkleidet sind, dazwischen der übliche Putz. Allerdings sind Putz und Gefache strahlend weiß, gerade so, als seien sie vom weißen Riesen selbst gewaschen. Im flirrenden Sonnenschein bilden sie kleine weiße Zentren, die an diesem wolkenlosen Sommertag entfernt an weiße Giebelstädte am Meer erinnern.






















































Insgesamt fünf Gemeinden fasst das kleine, in der Literatur vielfach erinnerte Tal: die hier beschriebenen Ortschaften von Allendorf und der Rabenau sowie Lollar, Staufenberg und einige Stadtteile von Grünberg.
Auf vulkanischem Boden
Doch beginnen wir zunächst mit den Steinen. Oberhalb von Londorf in der Gemeinde Rabenau wurde im 19. und 20. Jahrhundert als eine Besonderheit porenreicher Basalt, der sogenannte Lungstein abgebaut. Der graue Stein diente unter anderem als Flickmaterial für den Kölner Dom. Vor Ort wurde er zu Pflastersteinen und Treppenstufen verarbeitet, aus größeren Quadern mauerten die Handwerker Sockel für die Fachwerkhäuser. Die Londorfer Kirche, auch Dom der Rabenau genannt, und das Schloss Friedelhausen bei Lollar wurden ausschließlich aus dem lokalen Lungstein gebaut.
Ein Schloss im Tudor Stil



Bauherr von Friedelhausen war der angesehene Diplomat Freiherr Adalbert von Nordeck. Er wurde nach der Deutschen Revolution im Jahr 1848 in das erste gesamtdeutsche Parlament, das in der Paulskirche in Frankfurt tagte, gesandt. Hier lernte er die London Times-Korrepondentin Clara Phillips kennen, die er schließlich ehelichte. Um ihr in der Fremde ein Stück Heimat zu schaffen, ließ er Schloss Friedelhausen im englischen Tudorstil errichten. Mit dem Bau wurde der englische Architekt John Dobson (1787 – 1865) beauftragt.
Rainer Maria Rilke zu Gast
Die gemeinsame Tochter, Gräfin Luise von Schwerin, schuf in dem neugotischen Basaltschloss an der Lahn eine sprühend künstlerische Atmosphäre, in der sie ihre intellektuellen Freunde empfing. Unter ihren Gästen war auch der Dichter Rainer Maria Rilke, den die Gräfin während eines Kuraufenthaltes in Dresden kennengelernt und nach Schloss Friedelhausen eingeladen hatte. Damals war Rilke als Sekretär bei dem Bildhauer August Rodin in der Nähe von Paris angestellt. Das freie Leben auf dem Land genoss Rilke sichtlich. Aber auch zur Gräfin entwickelte er in diesem Sommer 1905 eine enge Freundschaft. Ein Jahr später starb Luise, Rilke blieb jedoch der Familie und insbesondere ihrer Tochter Gudrun weiterhin eng verbunden. Spätere Familienbesuche, auch in der Villa Discopoli auf Capri folgten.
Obwohl sich Rilke insgesamt nur wenige Wochen in Hessen aufgehalten hatte, sollen die Eindrücke sein Werk stark beeinflusst haben. Und nicht nur die Literaturkritiker sagen das, auch Rilke selbst schreibt: „Mein Leben, alles was ich bin, ist durch Friedelhausen durchgegangen, wie ein ganzer Fluss durch die Wärme einer besonnten Gegend geht, ausgebreiteter und breiter gleichsam und glänzend mit allen seinen Wellen…!“
Rainer Maria Rilkes Erinnerungen an Marburg und das hessische Land von Ingeborg Schnack, erschienen im N.G. Elwert Verlag Marburg, ca. 1951, Seite 15.
Ausflüge ins nahegelegene Hofgut Appenborn









Insbesondere Londorf und das nahegelegenen Hofgut Appenborn hatten es dem Schriftsteller angetan. So schrieb er 1907 an seine Gönnerin Julie Freifrau von Nordeck zu Rabenau: „Hier denke ich oft an die Quellen, die in den grünen Wiesen sind, und sehe Londorf und den Garten, der seine gleichen altmodischen Sommerblumen unter ihrem herzlichen Schutze vertrauensvoll auftut und Sommer hat überall: Sommer, der als Duft zittert, Sommer, der als große unzählbare Stunde auf der Sonnenuhr steht, Sommer, der sich spiegelt in der schattigen, lieben, unvergesslichen Fontäne.“
Rainer Maria Rilkes Erinnerungen an Marburg und das hessische Land von Ingeborg Schnack, erschienen im N.G. Elwert Verlag Marburg, ca. 1951, Seite 19 – 20.
Zwei Jahre später schreibt er in einem Dankesbrief an die junge Elisabeth Freiin Schenk zu Schweinsberg: „Ich kann mir heuer das liebe hessische Land, weiß Gott warum, ganz besonders deutlich einbilden… Es kommt mir vor, als wäre heuer aller Sommer dort in ihrem heimatlichen frohen Flußthal. In Hessen, sage ich mir jeden Morgen, steht sicher alles in Pracht und Buntheit; bilderbuchhaft fröhlich, als ob ein Vers wäre unter jeder Blume und als ob jeder Vogel einen kleinen symphatischen Reim sagte. – Ist es so?“
Rainer Maria Rilkes Erinnerungen an Marburg und das hessische Land von Ingeborg Schnack, erschienen im N.G. Elwert Verlag Marburg, ca. 1951, Seite 23.
Viele Jahre später, genau genommen im Jahr 1922, erinnert Rilke noch immer Friedelhausen in einem Brief an die Gräfin Adina Schwerin aus der Schweiz.
Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit und Jugend
Während für Rainer Maria Rilke das entfernte „liebe Thal“ Sehnsuchtsort bleibt, findet der Schriftsteller Peter Kurzeck im Dorf seiner Kindheit und Jugend Inspiration für sein literarisches Werk. Im Grunde genommen erzählt Peter Kurzeck das Dorf Staufenberg und seine Umgebung, aber auch das alte (20.) Jahrhundert, das es so schon lange nicht mehr gibt. Dabei beschwört auch er den Sommer: „Mir ist jetzt noch, als ob dieser Sommer nach mir ruft. Dieser Sommer und dann auch die nächsten, die Sommer danach. Sie sind längst vorbei, sind gewesen und rufen doch immer noch, sagte ich. Die Ferne ist es, die ruft. Durch das Gras ein Pfad auf den Wald zu. Lang hin die Feldwege. Wege aus weißer Erde und Wege aus roter Erde. Am Anfang des Sommers erst trocken geworden. Und werden im Lauf des Sommers erst zu Sand, dann zu feinem Sommerstaub. Und die Landstraßen. Viele noch nicht mal geteert. Kleine alte Landstraßen mit vielen Kurven. Straßen, die leer in der Sonne liegen.“
Peter Kurzeck: Vorabend, 2011 im Stroemfeld Verlag erschienen, Seite 515.
Orte, die es nicht mehr gibt
Der in Böhmen geborene Peter Kurzeck erinnert den Sommer, aber auch seine neue Heimat Staufenberg, die seither vom Verschwinden bedroht ist. So auch die Landstraßen, die den Autobahnen weichen oder die grünen Wiesen am Ortsrand von Lollar, auf denen seit neuestem (Eröffnung 1977) das Warenhaus Massa Einkaufspendler aus Gießen und Marburg, ja sogar aus Wetzlar und dem Vogelsberg anzieht. In der Welt des Chronisten sehen von nun an die Elstern zu, wie die Menschen mit leeren Autos anreisen, parken, einkaufen und ihre Kofferräume vollladen. Doch nicht nur die Elstern müssen sich an dieses Schauspiel gewöhnen, auch die Igel und die Maulwürfe müssen weichen: „Für die Maulwürfe auch immer weniger Platz. Müssen umziehen und umziehen, eine Zumutung, auch noch unterirdisch. Soviel Asphalt. Soviel Bagger und Lärm und Beton, das kapieren sie nicht, eine Idiotie, eine Menschendummheit.“
Peter Kurzeck: Vorabend, 2011 im Stroemfeld Verlag erschienen, Seite 134.
Ich beziehe mich auch auf Peter Kurzeck in dem Beitrag “Der vorige Sommer und der Sommer davor”.
Weitere Bilder aus dem Lumdatal gibt es hier:
