Herbsttransformationen
// von Melanie Schulz | 05.12.2024
Der Herbst neigt sich dem Ende. Die Blätter haben leuchtende Farben angenommen, nur um sich dann braun und zusammengerollt vom Winde davon tragen zu lassen. Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir: alles kahl bereits. Dazu macht sich Kälte breit. Sie hält uns nicht von unseren Spaziergängen ab, das frühe Dunkel treibt uns aber anschließend in die Lichtspiel- und Aufführungshäuser.
Und das war der Herbst 2024: Herbstspaziergänge. In den Vogelsberg zum Steinbruch Michelnau. Hier rotes Gestein von einem Schlackenvulkan gebildet. Ein Farbtupfer im graublauen Basalt des Mittelgebirges. Oder zum Gipfelkreuz am Leidenhöfer Kopf, auf dem der Sturm Kyrill einen wundervollen Ausblick über das Amöneburger Becken geschlagen hat.
Optimistisch-revolutionär: Die fetten Jahre sind vorbei
Abends dann in der NDR-Mediathek fündig geworden (noch bis 18. Dezember verfügbar): Die fetten Jahre sind vorbei von Hans Weingartner. Vor 20 Jahren im Kino gesehen. Und noch einmal überrascht, was für ein toller Film. Die Aktivisten Jan – Daniel Brühl und Peter – Stipe Erceg, später dann auch Jule – Julia Jentsch, brechen Nachts in Villen ein. Sie klauen nichts, verrücken und türmen aber Möbel auf mit der klaren Botschaft „Ihr könnt Euch nicht mehr sicher sein.“ Als sie bei einem ihrer nächtlichen Streifzüge erwischt werden, gerät die Aktion aus den Fugen: sie entführen den reichen Villenbesitzer Burghart Klaußner alias Justus Hardenberg. Auf einer Alpenalm kifft Hardenberg nachts mit seinen Entführern und erzählt von 1968: „Ich sah etwas anders aus. Hatte so einen Lockenkopf, abgewetzte Lederjacke, Schlaghosen, sone Mütze, richtiger Revoluzzer.“ Peter: „Das muss wirklich verdammt lang her sein.“ Hardenberg: „Es war schwer was los. Eine Zeitlang war ich sogar im Vorstand vom SDS. Rudi Dutschke war ein guter Freund von mir.“ Jule: „Bullshit!“ Jan: „Wie hieß denn der Vorsitzende?“ Hardenberg: „KD Wolff, Karl Dietrich Wolff.“ und so weiter und so fort….
Frei, stark und wunderschön: Emilia Pérez
An einem anderen Abend ins Capitol Flimkunsttheater nach Marburg. Zwei Handvoll Zuschauer im großen Saal. Was für eine Unterbesetzung im Publikum, es müssten Schlangen für diesen wunderschönen Film anstehen: Emilia Pérez von Jacques Audiard. Auf den Filmfestspielen in Cannes ist er bereits mit dem Publikumspreis und dem Preis für die beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet worden, den sich Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón als Emilia Perez, Selena Gomez als die Frau von Manitas del Monte und Adriana Paz teilen. Der Plot bizarr und aufregend, der Film, der auch ein Musical (hier der Soundtrack) ist, ein Wunder. Er beginnt mit der mexikanischen Anwältin Rita gespielt von Zoe Saldaña. Sie erhält einen Anruf. Die Stimme: ein tiefes Flüstern. Der Erfolg des heutigen Prozesses sei der Ihre. Wenn sie reich werden will, soll sie sich in zehn Minuten vor dem Kiosk am Postamt einfinden. Senhora? Si? Ein Schrei, ein schwarzes Tuch wird um ihren Kopf gepackt. Sie an Bord einer Lkw-Kolonne, die durch die nächtliche Wüste Mexikos fährt. Nach einem letzten Vergewissern gibt es kein zurück mehr, ihr Gegenüber im umgebauten Lkw grobporig, der Flüsterer: „Wissen Sie wer ich bin?“ „Manitas del Monte, Kopf eines Kartells, das mit synthetischen Drogen handelt. Wie kann ich Ihnen helfen, Senior del Monte?“ Rauhes Flüstern: „Ich will eine Frau sein.“ Später dann: Manitas del Monte mit Frau und Kindern unterm Sternenzelt der Wüste: „Ich weiß, dass ich dafür vieles hinter mir lassen muss…“
Poetisch-assoziativ: Frankfurt Paris Frankfurt
Gestern Abend dann in der Waggonhalle Marburg: Rudi Deuble liest aus dem Parisbuch „Frankfurt Paris Frankfurt“ von Peter Kurzeck. Herbst 1977. Peter Kurzeck will sein erstes Buch beim Suhrkamp Verlag veröffentlichen. Alle paar Tage trifft er sich mit seinem Lektor in Frankfurt. Dann muss er seinen Freund Jürgen wegen Kontakten zur RAF über die Grenze bis nach Metz in Frankreich bringen. Später dann Sybille und er mit Jürgens Freundin Doris auf dem Weg nach Paris, um Jürgen zu besuchen. Unterwegs Grenzkontrollen, Sekt und ein Gewitter, leere Nachtstraßen in Meaux: „In weiter Ferne rot eine Ampel. Fuß vom Gas (), und Doris hinter mir stöhnt. Die Ampel, weit weg noch, wechselt von Rot auf Grün. Wieder schneller die Straße. Schon sah ich Paris mit all seinen Lichtern und Namen aus der Nacht auf uns zufahren. () Mit dem Wind auf die Ampel, mit dem Wind auf die leere Kreuzung zu. Mit zunehmender Geschwindigkeit. Auf der alten RN 3 nach Paris. Ein Vorwegweiser, ein Bogen nach links, du rufst deine Augen zurück (wo bin ich, wenn ich nicht bei mir bin!), Mitten auf der Kreuzung ein gut beleuchteter Spuk, ein Auto und auf uns zu! Dir bleibt kaum Zeit, dich zu wundern. In den Zeitungen heißt das frontal! Nach dem Aufprall die Nacht jäh zum Stillstand gekommen. Als erstes: du lebst noch, wir leben! () Der Fremde auch. Mit einem Renault R4, an dem nach dem Zusammenstoß nichts mehr ganz und in Ordnung: das Auto war um ihn her komplett zusammengefallen! Wie ein Trick, eine Zauberkiste.“ (Peter Kurzeck: Frankfurt Paris Frankfurt, Seite 105, 106)
PS: Da im ersten Buch von Peter Kurzeck zu viel Alkohol floss, ist es im Suhrkamp Verlag nie erschienen. Kurze Zeit später erkannte der Verleger KD Wolff die literarische Reife in Peter Kurzecks Werk. Peter Kurzeck ist dem Stroemfeld-Verlag sein Leben lang treu geblieben, sein Lektor Rudi Deuble hat fast ein Vierteljahrhundert eng mit ihm zusammengearbeitet. Als der Stroemfeld Verlag Konkurs anmelden musste, übernahm Schöffling das Werk von Peter Kurzeck und Rudi Deuble gleich mit, der mit dem Parisbuch jetzt das 4. Buch aus Peter Kurzecks Nachlass veröffentlicht hat.
Und das war der fotografische Herbst 2024: