Die ewig singenden Wälder
// von Melanie Schulz | 07.09.2024
Ein weiteres Mal Barjac. Alte Steinhäuser mit beachtlichen Fensterläden, ein Kirchturm, Brunnen, beschauliche Plätze, Oliven, Oleander und Platanen, eingefasst von okzitanischen Lavendelfeldern, Zypressen, Obst und Wein. Außerdem: Der Fluss Cèze und die Garrigue, Steinmauern und die ewig singenden Zikaden.
Doch dieses Jahr ist alles anders. Es ist heiß, sehr heiß. Der Fluss steht und die Zikaden schreien mehr als dass sie singen. Hin und wieder entlädt sich die Hitze in heftigen Gewittern, eiswürfelgroße Hagelkörner fallen vom Himmel.
Das erste Mal fuhren wir nach Barjac, weil wir Peter Kurzeck gelesen hatten. Der Schriftsteller aus dem hessischen Staufenberg trampte in den 80er Jahren mit seiner Freundin Sybille und Tochter Carina nach Barjac, um die Freunde Jürgen und Pascale zu besuchen, die dort ein Restaurant eröffnet hatten. Seine Bücher handeln immer wieder von der Reise dorthin, von den Sommern in Barjac und den Telefonaten, die er von Deutschland aus mit Jürgen führt, als Pascal diesen verlässt (vgl. Sommertage im französischen Süden, Idyllisches Tal, literarische Muse, “Der vorige Sommer und der Sommer davor”)
Heute fahren wir nach Barjac, weil wir noch immer sehr Peter Kurzeck und Barjac, Saint Privat, den Fluss Cèze und die südfranzösische Landschaft mögen.
In jenem zweiten Sommer aber war behelfsmäßig ein Atelier ausgeschildert, das Atelier von Anselm Kiefer. ANSELM KIEFER? Ja, steht da. Wir folgten den Schildern über Staubpisten bis wir schließlich an ein rostrotes Tor kamen. Davor teure Limousinen und Eingangshüter, die uns darauf hinwiesen, dass dies eine VIP-Veranstaltung sei. Ärgerlich.
Was sich hinter dem rostroten Tor verbarg erfuhren wir also erst viel später. Zunächst aus einer Arte-Doku Anselm Kiefer – Der Künstler bei der Arbeit und aus der 3sat-Doku Dialoge in Südfrankreich – Ferdinand von Schirach trifft Anselm Kiefer.
Mittlerweile arbeitet Anselm Kiefer in einem Atelier in Croissy bei Paris. Sein Atelier in Barjac hat er der Eschaton-Stiftung geschenkt, welche regelmäßig Führungen anbietet. Die Tickets können nur online gebucht werden und sind in den Sommermonaten oft ausverkauft. So ist es uns bis heute nicht gelungen das Atelier La Ribaute zu besichtigen. Einmal hätte es klappen können, wenn ich nur rechtzeitig meine E-Mails gelesen hätte, es hatte jemand abgesagt. Um es dennoch irgendwie zu erleben haben wir uns schließlich eine weitere Reportage, diesmal in 3D, Anselm – Im Rauschen der Zeit von Wim Wenders angeschaut. Vor wenigen Wochen habe ich außerdem das sehr spannende und unterhaltsame Buch Der Wald und der Fluss von Karl Ove Knausgård über den deutschen Künstler gelesen.
Nun aber erstmal zu La Ribaute. La Ribaute ist kein gewöhnliches Künstleratelier. La Ribaute ist das 40 Hektar große Gelände einer aufgelassenen Seidenspinnerei, das Anselm Kiefer in ein gigantisches Kunstgelände verwandelt hat. Denn:
„Das ist eine schöne Landschaft hier. Aber das sagt mir nichts. [ ] Das ist für mich kein Material. Und dann habe ich angefangen zu buddeln.“ Anselm Kiefer im Gespräch mit Ferdinand von Schirach.
Also hat Anselm Kiefer zusammen mit seinen Mitarbeitern und mithilfe von Baggern, Raupen und Förderbändern seine eigene Landschaft gegraben: ein unterirdisches Tunnelnetz mit Lichtschächten, Amphitheater und sogar einer Krypta. Weitere Galerien hat er in diversen Häusern, Pavillions und Treibhäusern eingerichtet, zusammen mit den Türmen und dem unterirdischen Labyrinth bilden sie ein zusammenhängendes Gesamtkunstwerk.
Hier schuf der Maler von 1992 bis 2007 nicht nur diese bemerkenswerte Werkstattwelt, sondern auch seine wie gewohnt meist großformatigen und monumentalen Skulpturen und Malereien.
Damit diese auch in ihrer Sensualität (und die eingewobenen Materialien als das, was sie sind) und Vielschichtigkeit wirken können, zerstört Kiefer gerne seine eigenen Bilder und übergießt sie mit Blei, bestäubt sie mit Asche, oder arbeitet Kreide, Scherben, Leinen, Pflanzen, Erde und Ton in die Bilder hinein. Dabei fasziniert ihn vor allen anderen das Material Blei. Warum erklärt er Karl Ove Knausgård so: „Ich hatte ein altes Haus in Deutschland, ein sehr altes Haus, und darin gab es Bleirohre. Irgendwann gab es ein Problem, und der Klempner kam, und dann habe ich das ganze Blei gesehen. Ich war völlig elektrisiert. Es war elektrisierend für mich. Es war wie (flüstert), ich habe das so wahnsinnig gern. Es war Intuition, verstehen Sie? So hat es angefangen.“ Der Wald und der Fluss von Karl Ove Knausgård, Seite 43
Intuition scheint ein wesentliches Merkmal im Schaffensprozess‘ Anselm Kiefers zu sein, weshalb es auch nicht wundert, dass er sich thematisch immer wieder mit dem antiken Mythos befasst, den er als andere, nicht rationale Form der Erkenntnis begreift. Neben der Mythologie und Mystik spielen vor allem die deutsche Geschichte und Kultur, die Schrecken des Holocausts und die Transformation von Geschichte und Stofflichkeit, später dann auch Poesie und Literatur eine wesentliche Rolle in seinem Werk. So fertigte er bereits seine Abschlussarbeit an der Kunsthochschule als Protest gegen das Vergessen, sozusagen als Spiegel, an und fotografierte sich selbst mit dem Hitlergruß an verschiedenen Orten Europas. Aus dieser Haltung heraus erklärt sich auch seine künstlerische Auseinandersetzung mit Landschaftsmotiven: „Man kann eine Landschaft nicht einfach malen, wenn Panzer hindurchgefahren sind.“ Das Blei legt sich bei Anselm Kiefer entsprechend schwer darüber.
Und doch sind die monumentalen blei- oder braungrauen Werke Kiefers zweifelsfrei schön. Was aber bedeutet Schönheit für den Maler und Bildhauer Kiefer, der immer wieder Grenzen überspringen und etwas schaffen will, das ihn auch selbst überrascht? „Die Schönheit ist natürlich der Popanz, der vor mir hergetragen wird. Drum lauf‘ ich immer weiter,“ antwortet der ernste Künstler recht unernst auf eine Frage des österreichischen Publizisten Klaus Dermutz.
Das Buch und das Meer
Mit seinen Mitarbeitern in Barjac spricht der Künstler Französisch (ganz im Gegensatz zu Peter Kurzeck, der seine letzten 20 Jahre im südfranzösischen Uzes wohnte ohne die Sprache je zu erlernen). Die Arte Doku von Sophie Fiennes lässt tief in das Atelier und die Arbeit des Künstlers blicken, so platzieren seine Assistenten in einer Szene etwa ein bleiernes und mit Säure bearbeitetes Buch mithilfe eines Hebekrans vor dem imposanten Bild einer weiten Meerlandschaft.
Hiernach entspinnt sich ein Gespräch über das Meer zwischen dem Künstler und seinem Besucher Klaus Dermutz. Ungeachtet dessen, dass Anselm Kiefer den Zusammenhang von Buch und Meer für sinnvoll erachtet, konzentriert sich der Künstler besonders auf die ständig heranrollenden Wellen und die geologische Perspektive des Meeres. Diese Musik sei es, die einen sehr weit zurückbringe, zurück auf unser Wesen im Meer. Da wir aus dem Meer kommen, käme auch alles, was wir uns wünschten aus dem Meer, so der Künstler. Unsere Sehnsucht gelte dem ursprünglich warmen Meer von 37 Grad, in das und den glücklichen, unbewussten Zustand als Einzeller wir uns zurückwünschten.
Ich denke darüber nach. Dabei kommt mir in den Sinn, dass mein bewusstes Sehnsuchtsmeer nichts mit einem warmen Pool gemein hat. Mein Sehnsuchtsmeer liegt an der französischen Atlantikküste. Es ist von einem hohen Dünengürtel gesäumt, von dem aus ich es das erste Mal von oben gesehen habe. Und es war gewaltig. Tiefblau mit weißem Schaum. Schon beim ersten Eintauchen hat es mich gepackt und auf die Muschelbänke auf seinem Grund geschleudert. Es hat mich vorsichtig gemacht.
Am liebsten war mir das Liebesmeer am Abend. Die Wellen waren dann flacher und liefen besonders lange auf der Sandbank aus. Der Schaum hatte seine tosende Kraft eingebüßt, die dunkelblaugrüne Tiefe ließ er in diesen Stunden vergessen. Dafür vermischte er sich mit der Sonne zu einem blassgelben Silberviolett. Ein Fischerboot fuhr jeden Abend um dieselbe Zeit hinaus. Jede einzige Welle war die schönste von allen, dabei löste sie sich schon beim reinen Betrachten wieder auf. Das Meer rauschte unendlich schön und es wusste, dass es niemals damit aufhören würde.
Ein warmes Salzwasser stelle ich mir dahingegen beißend auf der Haut und keineswegs frisch vor. Im Allgemeinen vertrage ich Hitze nicht besonders gut. In Barjac aber mag ich diese überschwängliche Wärme, die die Zikaden in einen leiernden Chorgesang treibt. Hier vermischt sich die warme Luft und das ewige Singen der Garrigue und hüllt mich jedes Mal freundlich ein. Vielleicht kommen wir ja auch deshalb immer wieder.
Meine Todo-Liste für das nächste Mal:
- unbedingt rechtzeitig La Ribaute buchen
- neben Peter Kurzeck einen Karl Ove Knausgård einpacken.
Ich freue mich schon.
Wer wie ich bis dahin nicht warten möchte, kann sich bis zum 18. Mai 2025 die Werke Sefiroth, 20 Jahre Einsamkeit, Böhmen liegt am Meer, Schwarze Flocken und Die grosse Fracht in der Kunsthalle Mannheim ansehen.
PS: Und ewig singen die Wälder ist ein Roman von Trygve Gulbranssen, über den sich Anselm Kiefer und Karl Ove (Klaus) Knausgård unterhalten.
Barjac:
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