
Schmetterlingen hinterherjagen
// von Melanie Schulz | 18.04.2024
Die Zukunftsstraße immer geradeaus und schon stehen wir mitten im Laubenheimer Ried. Links ein Wassergraben, rechts die Weinhügel, davor Streuobst, solange bis der Weg einen Linksschlenker zum blumenbunten Deich macht, dahinter der 400 Meter breite Rhein. Noch vor dem Deich treffen wir auf ein Zitat von Carl Zuckmayer.
Viel los ist hier nicht nach Feierabend. Einige Spaziergänger, ein Jogger und Pferdehalter beim Besuch ihrer Lieblingsgefährten auf der Koppel. Das Ried liegt genauso wie der Ort Laubenheim fünf Meter unterhalb des Rheinniveaus, der Grundwasserspiegel ist entsprechend hoch. Nach Westen hin wird die Auenlandschaft von den Hängen des Rheinhessischen Plateaus mit der knapp 200 Meter hohen Laubenheimer Höhe, nach Osten vom Rhein begrenzt. Der Weg zweigt nach links ab und jetzt können wir es deutlich sehen, dass wir vor dem Deich durch eine weitläufige Polderlandschaft laufen.
Die Fülle des Lebens
Der großen Vielfalt an Tieren und Pflanzen hat das Gebiet zwischen Iffezheim und Bingen ‒ das Laubenheimer Ried liegt mittendrin ‒ übrigens die Bezeichnung „Hotspot der biologischen Vielfalt“ zu verdanken. Vor allem seltene Stromtalwiesenarten, darunter die besonders seltene Wieseniris ‒ auch Mainzer Lilie genannt ‒ da sie wild nur noch zwischen dem Kühkopf und Mainz wächst, blühen hier später im Jahr. Passend steht auf einer großen Tafel im Naturschutzgebiet ein Zitat von Carl Zuckmayer: „Im Strome sein, heißt in der Fülle des Lebens stehen.“

Ach, das Meenzer Kallchen!
Ich muss an einen mir nahe stehenden Menschen denken, der in den 60er Jahren den Kriegsdienst verweigert hat, und beim Richter, der dem Dialekte nach vermutlich aus dieser Gegend kam, mit Zuckmayer als Lieblingsautor punkten konnte: „Ach das Meenzer Kallchen!“ – und die Verweigerung war durch. Carl Zuckmayer wurde übrigens im Jahr 1896 kaum fünf Kilometer weiter den Rhein hinauf in Nackenheim geboren. Damit war er zwei Jahre älter als sein Schriftstellerkollege Berthold Brecht. Den Kommunisten und weiteren Lieblingsschriftsteller hatte der Kriegsdienstverweigerer beim Richter dann allerdings doch lieber unerwähnt gelassen.
Das Hochwasser auffangen
Der Polder wurde übrigens erst im 21. Jahrhundert gebaut, wie man auf den Seiten des NABU nachlesen kann. Im Extremfall können hier 6,7 Millionen Kubikmeter Wasser zurückgehalten werden. Dazu wurde der Polderdeich errichtet, auf dem die B9 verläuft. Damit bei einer Flutung der eingedeichten Wiesen das steigende Grundwasser keine anrainenden Häuser gefährdet, wurde außerdem eine tief in den Boden reichende Spundwand gebaut.
Ganz leise – die Schmetterlinge
Wir laufen nun parallel zum Deich, um dann nach einem großen Bogen durch den Wiesengrund des Polders nach links in ein Sumpfland aus Wassergräben und Teichen einzutauchen. Oberhalb des üppigen Grüns: brütende Störche auf Strommasten. Im grünen Dickicht aus Knoblauchsrauke, Pappeln und Weiden dagegen können wir eine Vielzahl von Gänsen an den Ufern der Teiche beobachten. Ihr Schnattern mischt sich mit dem Quaken der Frösche und dem Zwitschern der Vögel im Unterholz. Dazwischen ganz leise die Schmetterlinge. Kein Wunder, dass wir uns hier, wie ausgewiesen, in einem FFH-Gebiet (Flora Fauna Habitat) befinden.





Die Ziegelteiche
Spannend ist die Entstehungsgeschichte der sogenannten Ziegelteiche: Nachdem ein unterhalb des westlichen Plateaus verlaufender Mäanderbogen des Rheins vom Hauptstrom abgetrennt wurde, wurde die Auenlandschaft nur noch bei Hochwasser überflutet, wobei sich das Wasser entlang von Flutrinnen in das Feuchtgebiet ergoss. Die Flutrinnen beförderten das Wasser aber nicht wieder zurück in den Rhein sondern lenkten dieses in ein Becken, in dem sich die heutigen Ziegelteiche befinden. Das Flusswasser transportierte außerdem Sandkörner und Tonpartikel, die bei nachlassender Fließgeschwindigkeit zu Boden sanken. Dabei wurde der gröbere Sand zuerst abgelagert, der feinere Ton sank erst im Becken auf den Boden.
Eine Dichtung aus Ton
Ab dem 19. Jahrhundert wurden die Tonschichten abgebaut. Der Ton wurde zu Ziegeln gebrannt und in der von weitem sichtbaren Weisenauer Zementfabrik zusammen mit Kalk zu Zement verarbeitet. Später entdeckte man im Weisenauer Steinbruch eine mächtige Tonschicht, sodass der Abbau von Ton in den Ziegelteichen bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts aufgegeben wurde. Ja und so sind hiernach die heutigen Ziegelteiche entstanden. Der hohe Tonanteil im Boden bewirkt nämlich, dass das ohnehin hochstehende Wasser nur sehr langsam oder gar nicht versickert.
Wer war Carl Zuckmayer
Nachdem entspannten Abendspaziergang durch die Teichlandschaft drängt sich immer wieder der irgendwie altmodisch anmutende Schriftsteller Carl Zuckmayer in meine Gedanken. Sicher, den Hauptmann von Köpenick, den hat man schon mal gesehen, aber was hat die Legende Carl Zuckmayer alles noch geschrieben und wer war Carl Zuckmayer? Auf Youtube finde ich schließlich eine Dokumentation von Simone Reuter: Deutsche Lebensläufe Carl Zuckmayer. Was mich besonders beeindruckt, ist seine Liebe für die rheinhessische Landschaft, die ich teile, sowie seine Begeisterung für die Landschaften Karl Mays, die ich ebenfalls sehr gut verstehen kann. Besonders verwegen aber finde ich, dass er seiner Tochter den Namen Winnetou gab, ich mag mir gar nicht ausmalen, wie er wohl weitere Töchter genannt hätte. Winnetou II und Winnetou III? Alles in allem fand ich die Doku sehr kurzweilig und interessant.
Der Hauptmann von Köpenick
Ein paar Tage später schaue ich mir dann doch noch einmal den Hauptmann von Köpenick mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle auf dem 3Sat Kultur & Theaterkanal, ebenfalls auf Youtube entdeckt, an. Der knuffige Heinz Rühmann spielt sich natürlich ganz schnell in mein Herz, sodass Carl Zuckmayer mich weiter beschäftigt.
Des Teufels General
Am nächsten Tag beim Abwasch höre ich mir dann das Hörspiel Des Teufels General aus dem Südwestfunk an. Leider bin ich alles andere als eine gute Hörspiel-Zuhörerin. Wie nicht anders zu erwarten, schweife ich bereits nach den ersten zehn Minuten ab. Doch dann bin ich plötzlich voll da. Und ich spule zurück und höre mir diesen Part nochmal an. Und ich mag dieses Gespräch sehr, welches mich wiederum veranlasst den Film mit dem brillanten Curd Jürgens als Fliegergeneral Harras in der Arte Mediathek anzuschauen (nicht mehr verfügbar). Leider ist die Unterhaltung im Film gekürzt, jetzt liegt das Buch auf meinem Tischchen im Wohnzimmer. Der Beginn der Unterhaltung zwischen Harras, der aus Leidenschaft für die Fliegerei einen Pakt mit dem Teufel schloss und in den Dienst der Nazis getreten war, deren Partei und Politik aber verachtet, mit dem jungen, regimegläubigen Idealisten Leutnant Hartmann kann aber in diesem Ausschnitt nachgesehen werden.
Fortsetzung des Gesprächs
Das Gespräch setzt sich dann im Original folgendermaßen fort:
Hartmann: „Der Tod auf dem Schlachtfeld ist groß. Und rein. Und ewig.“
Harras: „Ach Scheiße. […] Ich weiß, Du empfindest was dabei – aber was falsches, verstehst Du? Der Tod auf dem Schlachtfeld ‒ der stinkt, sag ich Dir. Er ist ziemlich gemein, und roh, und dreckig. Hast Du nicht selbst gesehen, wie sie rumliegen? Was ist groß daran? Und ewig? Er gehört zum Krieg wie die Verdauung zum Fraß. Sonst nichts. Du sollst den Tod nicht fürchten […]. Du sollst nicht vor ihm ausreißen. Aber Du sollst ihm trotzen […] und ihm widerstehen, und ihn überlisten, und ihn hassen wie die Pest. […] Wer ihn […] sucht ‒ der ist kein Held. Der ist kein guter Kämpfer, der ist ein Narr.
Hartmann: „Ich weiß. Wir dürfen unser Leben nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen. Es gehört nicht uns.“
Harras: Wem sonst, zum Donnerwetter? ‒ Sagen Sie jetzt auf keinen Fall: dem Führer. Sonst sehe ich Rot.“
Hartmann: „Wir müssen der Truppe unsere Kampfkraft erhalten, bis zum letzten Blutstropfen.“
Harras: „Ach Du lieber Gott. Wenn ich nur einmal diesen letzten Blutstropfen nicht mehr schlucken müsste. Mir ist schon ganz übel davon. Du sollst Deine dämlichen Blutstropfen beisammen halten, verstehst Du ‒ oder wenigstens genug davon, dass Du nicht abflatterst. […]“
[…]
Hören Sie mir zu, Hartmann ‒ oder lassen Sie es bleiben, ganz wie Sie wollen. Ich sage jetzt ‒ was mir heute Nacht durch den Kopf gegangen ist ‒ seit ich Sie sehe, Hartmann. Sie sind jung, aber Sie wissen es nicht. Vor Ihnen liegt das Leben ‒ aber Sie wissen nicht, was das Leben ist. Sie stecken in einer Krebsschale, in einer Austernmuschel, die Sie für die Welt halten, und spüren nicht, dass draußen, um Sie her, der ungeheure Ozean rauscht. Ich aber sage Ihnen, das Leben ist schön. Die Welt ist wunderbar. Wir Menschen tun sehr viel, um sie zu versauen, und wir haben einen gewissen Erfolg damit. Aber wir kommen nicht auf ‒ gegen das ursprüngliche Konzept. […] Aber ich weiß ‒ das Konzept ist gut. Der Plan ist richtig, der Entwurf ist grandios. Und der Sinn heißt ‒ Nicht: Macht. Nicht: Glück. Nicht: Sättigung. Sondern ‒ die Schönheit. Oder ‒ die Freude. Oder beides. […] Es ist das, was wir in unseren besten Stunden ahnen, und besitzen. Und dafür ‒ nur dafür ‒ leben wir überhaupt.
[…]
Haben Sie je als Kind auf einer Wiese nach einem Schmetterling gejagt? Sehen Sie ‒ da waren Sie hinter der Schönheit her. Diese kleine Wiese ‒ mit dem verstaubten Straßengebüsch ‒ das ist Ihre Heimat. Das ‒ und der klare Bach, in den Sie Kiesel geworfen haben. […] Unsere Heimat, Hartmann, ist die Erinnerung. Die gute und die böse. Die Wiesen und die Tümpel der Erinnerung ‒ daraus wir uns Bilder machen, so groß wie Himmel und Hölle.
[…] Der ursprüngliche Entwurf […] ‒ nachdem es uns immer zieht ‒ der ist schön. Er überwältigt uns, wo wir seine Zeichen sehen ‒ auch wenn wir die Formel nicht begreifen. Warum sind Mineralien so schön? Und Nordlichter? Oder die Maserung in einem Stück Holz?“ […] Herrgott, Hartmann! Glaubst Du mir nicht, dass es sich lohnt zu leben? Sehr lang zu leben? Ganz alt zu werden?“
Fazit: aufwühlend und von Anfang an spannend!
All das und seine beschützende Uhr gibt Harras Hartmann mit auf den Weg ‒ außerdem übergibt er ihn in die Obhut Oderbruchs ‒, nur wenige Tage, Minuten bevor er wissentlich in ein sabortiertes Flugzeug steigt und damit abstürzt. Das Drama um den Fliegergeneral Harras ist (wenn man nicht gerade mit dem Abwasch beschäftigt ist) von Beginn an superspannend, aufwühlend, es regt zum Nachdenken an und ich kann es nur sehr empfehlen. Auch jetzt, nach der Lektüre beschäftigen mich noch sehr viele Aspekte darin.