
Im Schneerausch
// von Melanie Schulz l 09.03.2024
Vom Schneesturm eingeholt, Weiterkommen verhindert: Über “Fifteen Feet of pure White snow” von Nick Cave & the Bad Seeds und “Der Schneesturm” von Vladimir Sorokin.
Ein Meer aus Schneeglöckchen im Garten. Vor wenigen Tagen dann die ersten Krokusse und zwei aschrosa Primeln. Auch das Immergrün schlägt bereits seine violettblauen Räder, der Frühling klopft an. In meiner Bilderwelt aber ist es noch Winter. Zarter Winter mit Puderzuckerschnee auf den Tannen. Doch es könnte gerne mehr sein. Tiefer weicher Schnee und Flocken, die einem ins Gesicht treiben.
Fifteen Feet of pure White Snow
Etwa so, wie es das Stück Fifteen Feet of Pure White Snow von Nick Cave aus dem Jahr 2001 verspricht. Wunderbar, das passende Video zum psychedelischen Song startet mit der Aufnahme von Bildern durch einen Fotoapparat, wir scheinen in Russland zu sein, so lässt es zumindest ein Schriftzug in kyrillischen Buchstaben vermuten, später lese ich, die Aufnahmen sollen das Zentralkomitee der kommunistischen Partei in Kasachstan zeigen. Und schon fragt Nick Cave ins Mikrofon „Wo ist Mona?“ Und wir erfahren „She’s long gone.“ „Und Mary?“ „Die hat sie mitgenommen.“ Es folgen ein paar lässig-schlacksige Tanzbewegungen, die Arme eng am Körper, die weißen Slipper wippen. „Beide haben ihre Fäustlinge vergessen und draußen liegen viereinhalb Meter Schnee.“ Und schon tanzt nicht mehr nur Nick Cave, es spielt auch nicht mehr nur seine Band The Bad Seeds, sondern es tanzen weitere Frauen und Männer im – wie es scheint speziell angefertigten 70er Jahre Chic – langsam, wie in Trance, die Hände über dem Kopf, darunter legendäre Musiker und Schauspieler wie Jarvis Cocker, Jason Donovan und Noah Taylor. Und spätestens jetzt ist man sich der Bedeutung von Schnee nicht mehr wirklich sicher…Auch Michael und Marc und Matthew scheinen verschwunden zu sein, was ist passiert, ein Lawinenunglück? Oder vielleicht doch ein schlechter Rausch mit Folgen? Eine Handkamera zeichnet alles auf, mehrere Männer fertigen Fotos der Zusammenkunft an, einer bedient die Nebelmaschine, schließlich tanzen alle in einer gemeinsamen Choreographie. Nick Cave ruft den Doktor an „I’m going mad.“ Später fragt er nach der Schwester „I need some healing.“ Die Choreographie und der Gesang werden immer stärker, die Dramatik wächst, gemeinsam preisen die Tänzerinnen und Tänzer mit hocherhobenen Händen den Herrn an, vielleicht um die über allem schwebende Isolation zu überwinden. Zum Abspann dann Nebel…
Fifteen feet of pure white snow
Der Schneesturm
Nicht weniger verstörend die russische Winternovelle „Der Schneesturm“ von Vladimir Sorokin, die ich in der vergangenen Woche gelesen habe. Set und Sprache ähneln einem Literaturklassiker aus dem 19. Jahrhundert: der Landarzt Garin will mit seinem Vakzin nach Dolgolje, um dort die Menschen gegen eine Seuche zu impfen, die die Infizierten in Zombies verwandelt. Da seine Pferde erschöpft sind, heuert er den Brotkutscher Krächz an, der schließlich 50 winzige Pferde so groß wie Rebhühner ein jedes, vor die Kutsche spannt. Doch weit kommen die beiden im gewaltigen Schneetreiben nicht, schon bald schlitzen sie sich eine Schlittenkufe an einer vom Schnee verdeckten Glaspyramide auf. Sie kehren beim bösartigen Müller ein, der allerdings ein Winzling ist und von seiner Frau wie ein Baby vor der Brust gewiegt wird. Die Müllerin arbeitet mit Schnaps und kann die beiden überreden, diese Nacht zu bleiben. Am kommenden Mittag erneut der Versuch, die schneebedeckte russische Pampa in Richtung Dolgolje zu durchkreuzen. Es gilt immer wieder nachzusehen, wo die unmarkierte Straße unter den Schneemassen verläuft, dabei nichts als Schneewüste vor Augen und dichte Flocken im heftig blasenden Wind. Endlich! Ein Haus im weißen Treiben. Gefolgt von blankem Entsetzen. Sie haben sich geirrt, es gibt kein Haus. Dafür wenigstens ein Zelt mit Dopaminierern, in dem sich die Seltsamkeiten fortsetzen. So darf der abermals schwache Doktor ein ganz neues Produkt der Dopaminierer kosten, eine glasklare Pyramide. Kugel und Würfel hatte er bereits in der Vergangenheit probiert, die Pyramide aber ist fast doppelt so groß, durchsichtig und genau von der Art, wie die, an der sie sich die Kufe aufgeschlitzt hatten. Was für ein Vermögen da im Schnee gelegen haben muss! Doch jetzt will der Doktor sich nicht ärgern sondern schnieft erregt, als unter der Pyramide ein Gaskocher aufflammt… Derweil gewährt ein Kasache dem Kutscher den erbetenen Unterschlupf für seine Pferde. Hierzu schlägt er drei Kämme in den Schnee, drückt auf diese gebährende Filzpaste aus einer Tube drauf und sprüht sie mit Lebendwasserspray ein. Und trotz des tobenden Schneesturms wachsen drei Filzwände aufeinander zu, als sie einander berühren holt der Kasache das Todspray hervor, fertig ist der Überbau. „Alles Technologie!“, sagt der Kasache. Zurück zum Doktor: Hier löst sich mittlerweile die transparente Pyramide in Luft auf und eine „durchscheinende Halbkugel aus feinster lebend gebärender Plastik“ schließt die vier Konsumierer ein. „Madagaskar!“, ruft der Anführer den traditionellen Gruß konsumierender Dopaminierer. Und dem Leser schwant, dass er sich nicht im Russland des 19. Jahrhunderts befindet, sondern dass er sich mit den beiden Helden auf eine Reise durch ein Russland der Zukunft begeben hat. Wunderdroge und Schneesturm sind gefährliche Widersacher auf dieser unheilvollen Fahrt, die erst in einen Horrortrip, später dann in hoffnungslose Orientierungslosigkeit führt…








Auf der Suche nach einem schönen Winterlied und einem schönen Winterbuch bin ich gleich zweimal mitten im harten, russischen Schneetreiben gelandet. Jetzt darf der Frühling aber wirklich kommen! Ich freue mich darauf!
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