
Wildes Wäldchen
// von Melanie Schulz | 16.12.2021
Im Jahr 2005 kam ich das erste Mal auf die Insel Juist: Wind, Meer und Strandwandern, wann es nur ging. Es sollte aber noch weitere zehn Jahre dauern, bis es mich erstmals auf verschlungenen Pfaden durch das Inselwäldchen zog.
Im Juni 2005 verbrachte ich ein paar Tage hier um mich dem Literaturstudium für meine Diplomarbeit zu widmen. Ich hatte mich in einem alten Pensionshaus eingemietet, mit unmittelbarem Strandzugang durch die Dünen. Der schmale Stichweg führte allerdings nicht zu eben mal einem Strand, sondern zu einem schier endlos anmutenden schneeweißen Traumstrand. Morgens und Abends lief ich diesen wundervollen Strand entlang, mal nach rechts und mal nach links. Mittags las ich in der Inselbibliothek mit breiter Fensterfront zum Wattenmeer und den angrenzenden Salzwiesen. Danach wieder zurück an den Strand. 12 Grad Lufttemperatur und ein starker Wind peitschte in diesen Tagen über Strand und Meer. Die Wellen hatten das Eiweiß abgestorbener, winziger Algen wie zu Milchschaum aufgeschlagen: ein überbordendes, schäumendes und auf den Strand schwappendes Meer. Meine Kamera hatte ich vergessen, dafür gruben sich die rollenden und an mir vorbeifliegenden Schaumfetzen und die klare blaue Luft tief in mein Gedächtnis ein.
Ein Süßwassersee inmitten der Nordsee
Ein Wiederkommen war unausweichlich. Und auch dieses Mal hatten wir mehrere Tage eingeplant. Es fiel zwar schwer, dem pulverweißen Sandstrand den Rücken zu kehren, irgendwann schlugen wir aber doch eine Alternativroute durch das Inselinnere ein. Immerhin liegt hier inmitten der Dünenberge der größte Süßwassersee der deutschen Nordsee, gesäumt von einem verträumten Gürtel aus Schilf und bizarren Bäumen. Der geheimnisvolle See zeugt davon, dass Juist im Jahr 1651 von einer Sturmflut zweigeteilt wurde. Erst im Jahr 1932 gelang es, die beiden Inselteile wieder durch einen Dünendeich miteinander zu verbinden. Später wurde die so entstandene Bucht auch zur Nordseeseite hin abgeriegelt. Das Wasser einer Sturmflut bildete in der Mulde zwischen den Konnexionen zunächst einen Salzwassersee. Regenwasser wusch das Salz dann langsam aus.
Unzähmbar und wild: das Inselwäldchen
Eigentlich macht der fast ständig wehende Wind einen Waldwuchs auf Juist nahezu unmöglich. Der Waldbauer, Biologe und Pädagoge Otto Lege hatte in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts allerdings eine Idee: westlich des Sees, noch in der Senke pflanzte er besonders windharte Baumarten wie Karpatenbirken und Schwarzerlen an. Seither ducken sich die seltenen Pflanzenarten unter dem Wind hinweg, der über die Kronen fegt. Die Bäume sind von knorrigem Wuchs. Zusammen bilden sie einen kleinen, verwunschenen Wald, der unter Naturschutz steht. Auf einem verschlungenen Sandpfad lässt sich dieser durchwandern. In der laubfreien Zeit sind die wilden Wurzeln und Äste dabei besonders beeindruckend. Unzähmbar, sperrig und verworren bilden sie ein hölzernes Geflecht, in dem sich hin und wieder wunderschöne Plätze zum Verweilen auftun. Der Frühling erwacht. Ein frühes, hellgrünes Geschlinge aus dem Unterholz umrankt bereits das widerspenstige Astwerk. Moosteppiche breiten sich auf dem Waldboden aus. Gelbblühende Weidenkätzchen, Kirsch- und zarte Schlehenblüten bilden die ersten Farbtupfer. Die Rehe bellen und die Vögel bauen ihre Nester…